Angesichts einer drohenden Stromversorgungslücke im Winter sind in der Schweiz vermehrt Forderungen nach dem Bau neuer Kernkraftwerke zu vernehmen. Oft wird dabei auf verheissungsvolle neue Ansätze verwiesen, die punkto Wirtschaftlichkeit, Sicherheit und Nachhaltigkeit deutlich besser abschneiden sollen als herkömmliche Reaktortypen. Eine Studie der Schweizerischen Energie-Stiftung untersuchte, ob die Hoffnungen berechtigt sind.
Als bisher letztes Kernkraftwerk der Schweiz wurde 1984 Leibstadt in Betrieb genommen. Kommen bald neue Kraftwerke dazu, die auf neuen Konzepten beruhen? Foto KKL
Eigentlich ist seit dem Ja des Stimmvolks zur Energiestrategie 2050 klar, dass die Schweizer Kernkraftwerke nach und nach abgeschaltet werden und keine neuen gebaut werden dürfen. In letzter Zeit haben verschiedene Ereignisse aber dazu beigetragen, dass dieser Entschluss hinterfragt wird. Erst mehrten sich im Herbst 2021 die Stimmen, die angesichts einer drohenden Winterstromlücke im Zuge der Dekarbonisierung der Energieversorgung den Bau neuer Kernkraftwerke (KKW) forderten. Dann entschied Anfang 2022 die EU-Kommission, Investitionen in Kernenergie als nachhaltig einzustufen. Dann kam der Krieg in der Ukraine. Er dürfte dazu führen, dass sich Westeuropa und die Schweiz möglichst rasch von russischem Gas und Öl unabhängig machen möchten.
Neue Generation als Heilsbringer?
All diese Entwicklungen könnten dazu beitragen, dass der Bau neuer KKW in einigen europäischen Ländern tatsächlich wieder in Betracht gezogen wird. Aber wären sie früh genug verfügbar, um die gewünschte Dekarbonisierung zu unterstützen und eine Energieversorgung ohne fossile Brennstoffe sicherzustellen? Wären sie sicher genug und wirtschaftlich rentabel? Wie unabhängig wäre die Schweiz damit vom Ausland? Diese Kriterien sollen verschiedene neue, «nicht-traditionelle» Reaktortypen erfüllen, die vor allem in den USA derzeit heiss diskutiert werden. Die Schweizerische Energie-Stiftung (SES) hat in einer 2021 publizierten Kurzstudie untersuchen lassen, ob solche neuen Reaktortypen den Erwartungen gerecht werden und eine Kommerzialisierung inklusive der damit verbundenen Aufwände gerechtfertigt ist.
Studie macht Realitätscheck
Die Untersuchung fokussierte sich auf drei nicht-traditionelle Reaktorkonzepte:
- Natriumgekühlte schnelle Brutreaktoren (Sodium-cooled Fast Reactors, SFR)
- Gasgekühlte Hochtemperatur-Reaktoren (High-Temperature Gas-cooled Reactors, HTGR)
- Salzschmelze-Reaktoren (Molten Salt Reactors, MSR)
Um ihr Potenzial abzuschätzen, bewertet die Untersuchung die drei Ansätze anhand von vier Kriterien. Dabei handelt es sich um Risiko und Sicherheit, Nachhaltigkeit, Proliferationsgefahr (Weitergabe) sowie Wirtschaftlichkeit. Die Resultate der Bewertung präsentiert die Studie in Form eines Faktenchecks, der als «Erwartung versus Realität» bezeichnet wird.
Konkurrenz ist billiger
Im wirtschaftlichen Bereich ist eine der wichtigsten Erwartungen, dass die neuen Konzepte zu tieferen Kosten realisiert werden können. Dies entweder durch einen effizienteren Uranverbrauch oder durch schnellere Bauprozesse aufgrund des modularen Ansatzes. «Wir sind jedoch zum Schluss gekommen, dass die Produktion von nicht-traditionellen Reaktoren eher teurer wäre», erklärt Bessie Noll, Doktorandin in der «Energy and Technology Policy Group» der ETH Zürich und Co-Autorin der SES-Studie. Zwar seien die einzelnen nicht-traditionellen Reaktoren möglicherweise kostengünstiger als herkömmliche, doch durch die geringere Leistung seien ihre Kosten pro Stromeinheit trotzdem höher. Noll ergänzt: «Zudem müssten die technisch noch nicht ausgereiften Konzepte mit etablierten erneuerbaren Energien konkurrieren, die heute bereits viel billiger Strom produzieren.»
Eine andere Hoffnung für die neuen Reaktortypen lautet, dass sie rasch gebaut werden können – optimistische Entwickler gehen sogar von einer Kommerzialisierung vor 2030 aus. Gemäss der Studie gehen die Firmen bei diesem Zeitplan aber davon aus, dass ihre neuen Produkte keine umfangreichen Leistungs- und Sicherheitstests bestehen müssen. Ausserdem beträgt die Bauzeitverzögerung bereits bei traditionellen Reaktorkonzepten über 60 Prozent. Die unausgereiften neuen Konzepte dürften kaum schneller gebaut werden können.
Illustration der Funktionsweise eines Small Modular Reactors (SMR). Die meisten nicht-traditionellen Reaktorkonzepte haben einen solchen modularen Aufbau. Grafik Wikipedia
Dauerbetrieb ist wirtschaftlicher
Auch die Möglichkeit einer Lastverfolgung gehört zu den Erwartungen an die nicht-traditionellen Reaktorkonzepte. Gemeint ist damit, dass kleine Reaktoren bei hoher Nachfrage schnell hochgefahren und bei tiefer Nachfrage rasch heruntergefahren werden können, dass sie also nachfragegeführt betrieben werden. Damit wären sie eine wertvolle Ergänzung zur volatilen Produktion der erneuerbaren Energien und könnten zur Dekarbonisierung beitragen. Der Faktencheck der Studienautoren hält jedoch fest, dass eine solche Auslegung des Betriebs die Wirtschaftlichkeit der Reaktoren beinträchtigen würde. «Die Stromproduktion läge im Vergleich zum herkömmlichen Dauerbetrieb tiefer und die Kosten pro Stromeinheit damit höher», sagt Bessie Noll. «Zudem müssten Reaktoren im Lastverfolgungsmodus mit erneuerbaren Energien in Kombination mit Batterien konkurrieren und hätten im Wettbewerb wohl das Nachsehen.»
Mehr Anlagen, mehr Risiken
Neue Reaktorkonzepte sollen eine höhere Sicherheit bieten als herkömmliche Anlagen, so eine oft geäusserte Hoffnung. Begründet wird dies beispielsweise damit, dass die Anlagen kleiner seien und daher weniger radioaktives Material eingesetzt werde. Allerdings sind die neuen Konzepte noch nicht erprobt – daher können auch neuartige Sicherheitsprobleme noch nicht ausgeschlossen werden. Die SES-Untersuchung weist darauf hin, dass auch durch den geplanten dezentralen Einsatz neuer Reaktortypen neue Sicherheitsrisiken entstehen. Mehr Anlagen bedeuten ein höheres Risiko von Unfällen und von Proliferation, also von ungewollter Weitergabe nuklearen Materials und Know-how. Darüber hinaus wäre es auch sehr teuer, für die Sicherheit vieler verschiedener Anlagen zu sorgen.
Industrie winkt ab
Als potenzieller Vorteil gewisser nicht-traditioneller Reaktortypen, den sogenannten Hochtemperatur-Gasreaktoren, wird auch das Bereitstellen von Hochtemperatur-Prozesswärme für sekundären Gebrauch genannt. Gemeint ist damit, dass bei der Kernstromproduktion überschüssige Hitze anfällt, die sich in der Industrie etwa für die Wasserstoff- oder für die Stahlproduktion nutzen lässt. Da für solche Anwendungen oft fossile Energien eingesetzt werden, wäre das tatsächlich ein hilfreicher Beitrag zur Dekarbonisierung. Allerdings stehen die möglichen industriellen Partner der Idee gemäss SES-Studie kritisch gegenüber. Sie wollen aufgrund von Sicherheitsbedenken weder Kernkraftwerke in der Nähe ihrer Produktionsstätten noch wollen sie die Kosten oder die Verantwortung für nukleare Abfälle übernehmen.
Für die Herstellung von Stahl sind hohe Temperaturen nötig - auf Hochtemperaturwärme aus der Kernkraft verzichtet die Industrie aber lieber. Foto Pixabay/zephylwer0
Fazit: Keine sinnvolle Option
Die SES-Studie überprüft weitere Argumente für die nicht-traditionellen Reaktortypen und entkräftet auch diese weitgehend. Die Autoren halten abschliessend fest, dass die untersuchten neuen Typen in bestimmten Bereichen tatsächlich gewisse Vorteile gegenüber herkömmlichen Reaktordesigns haben könnten. Allerdings schaffe es keines der neuen Konzepte, in allen Bereichen gleichzeitig signifikante Verbesserungen zu erreichen. «Insbesondere sind die möglichen Vorteile nicht gross genug, um die zahlreichen Risiken zu rechtfertigen, die mit der Entwicklung von nicht-traditionellen Reaktoren verbunden sind», bekräftigt Bessie Noll. Von einer Kommerzialisierung sind die untersuchten Konzepte alle noch weit entfernt. Und selbst wenn eines im nächsten Jahrzehnt Marktreife erlangen würde: Gemäss Noll würde es nochmals mindestens 20 Jahre dauern, bis in der Schweiz einer der neuen Reaktortypen in Betrieb gehen kann. «Dazu müsste auch ein komplett neues regulatorisches Rahmenwerk entwickelt werden», gibt die ETH-Mitarbeiterin zu bedenken. Für einen wirkungsvollen Beitrag zur Dekarbonisierung wäre es dannzumal viel zu spät. Die nicht-traditionellen Reaktortypen sind daher kaum die richtige Lösung für die Zukunft der Schweizer Stromversorgung.
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